Tayo, der Wolf, wird
gebraucht
Es war einmal ein Wolf
namens Tayo. Er hatte fünf Geschwister: Drei Brüder namens
Isegrimm, Ayko und Wolfram und zwei Schwestern namens Luna und Waya.
Die meisten seiner Geschwister konnten irgendetwas besonders gut:
Isegrimm war ein starker Kämpfer, Ayko und Wolfram waren sehr
schnell und Luna hatte die schönste Stimme des ganzen Wolfsrudels.
Waya war noch zu jung, um irgendetwas besonders gut zu können, aber
alle fanden sie niedlich und entzückend.
Nur Tayo bekam fast nie
Lob. Im Gegenteil, er wurde oft ausgelacht: Wenn jemand in einen
Matschhaufen trat, dann Tayo. Und beim Raufen mit den anderen Wölfen
gewann Tayo nur selten. Er konnte irgendwie nichts so richtig gut: Er
war nicht besonders schnell, nicht besonders stark und er konnte
überhaupt nicht gut heulen. Seine Geschwister heulten immer laut und
kräftig mit, wenn der Mond schien, aber seine Stimme klang krächzend
und nicht besonders schön. Deshalb heulte Tayo niemals. Er schämte
sich zu sehr. Er wünschte sich so, dass sein Wolfsvater Lupo auch
einmal zu ihm sagen würde: „Ich bin stolz auf dich.“ Doch das
sagte er immer nur zu seinen Geschwistern. Seine Mutter hatte auch
wenig Zeit für ihn, weil die kleine Waya noch so jung war und viel
Pflege brauchte. Deshalb fühlte sich Tayo oft allein. Manchmal kam
es ihm so vor, als wäre er niemandem wichtig.
Eines Tages traf er eine
traurige Entscheidung: Er würde den Wald verlassen. Er war sich
sicher, dass er hier nicht gebraucht wurde. So schlich er sich,
mitten in der Nacht, bei Mondschein, heimlich fort. Als er noch einen
letzten Blick auf seine schlafende Mutter warf, rollte eine Träne
seine Schnauze herunter.
Er war schon einige
hundert Meter gelaufen, da hörte er auf einmal seinen Namen.
Erstaunt blickte er sich um. Oben auf dem Ast saß die kluge Eule
Juri: „Wohin möchtest du, mein Freund?“, fragte Juri. Tayo
zuckte unsicher mit den Schultern: „Einfach weg. Mich will hier eh
keiner haben.“ Erstaunt blicke Juri ihn an: „Wie kommst du denn
darauf?“ Tayo sah zu Boden: „Ich bin keinem wichtig. Meine Eltern
haben keine Zeit für mich und sie finden meine Geschwister viel
toller. Ich habe hier keinen Platz.“
Juri flatterte vom Baum
herab und setzte sich neben Tayo. Überrascht stellte Tayo fest, dass
Tränen in Juris Augen standen. „Warum weinst du?“, wollte er
wissen. Da kullerten die Tränen nur so Juris Federkleid herunter und
die Eule schniefte: „Weil du hier fehlen wirst. Weil es einen Platz
für dich gibt, der dann leer wäre. Weil es wichtige Aufgaben gibt,
die auf dich warten.“ Tayo legte den Kopf schief: „Wie meinst du
denn das?“ Die Eule wischte sich mit dem Flügel eine Träne vom
Auge: „Lieber Tayo, jedes Lebewesen hat einen Platz auf der Erde.
Auf der ganzen weiten Welt gibt es niemanden wie dich. So viele
Lebewesen gibt es auf der Welt – aber deine Augen gibt es nur
dieses eine Mal! Jeder Wolf, jede Eule, jeder Menschen ist einmalig
und wertvoll, so, wie er ist!“ „Aber ich kann doch gar nichts
Besonderes!“, protestierte Tayo. „Vielleicht siehst du es noch
nicht“, antwortete die Eule, „Aber in jedem Einzelnen steckt
etwas. Jeder hat eine Stärke und für jeden gibt es eine Aufgabe in
diese Welt. In dir schlummern Fähigkeiten, mit denen du andere
unterstützen kannst. Und andere wiederum können dir helfen. So
können wir alle zusammen diese Welt zum Guten zu verändern.“
„Dass ich wertvoll bin,
höre ich zum ersten Mal.“, murmelte Tayo leise und begann, zu
weinen. Die Eule legte einen Flügel um Tayo und drückte ihn fest an
sich: „Komm mal mit.“ Sie lief mit ihm zum kleinen Bach und auf
einmal sah Tayo auf der Wasseroberfläche ein Bild von einem alten
Wolf, der ihn freundlich ansah. Es war, als würde das Bild lebendig
und der Wolf sprach: „Ich bin deine Urgroßmutter Annabel. Du
kennst mich nicht, aber ich bin so stolz auf dich. Gib' nicht auf!“
Tayo schnappte erstaunt nach Luft, doch da erschien schon ein zweites
Bild auf dem Wasser: Ein Wesen, das Tayo noch nie gesehen hatte –
und doch fühlte es sich an, als wäre es Tayo schon immer unsichtbar
nahe gewesen. Es sah mächtig und stark aus und gleichzeitig waren
seine Augen voller Liebe. „Ist das etwa der Große Geist?“,
fragte Tayo aufgeregt. Juri nickte: „Die Indianer nennen ihn den
Großen Geist. Andere reden von Gott, wieder andere von einer guten
Macht oder der Liebe. Doch wie auch immer du ihn nennst … dass du
geboren wurdest, war seine Idee. Und auch für ihn bist du
unbezahlbar wertvoll.“
„Du wirst geliebt!“,
bekräftigte Juri, „ Es ist schlimm, wenn die Eltern einem diese
Liebe nicht zeigen können. Du darfst darüber weinen – weinen tut
oft gut. Doch das Versagen deiner Eltern ändert nichts daran, wie
wertvoll du bist. Manchmal spüren wir lange Zeit keine Liebe – und
doch ist sie da. Wie die Sonne, die sich an Regentagen hinter Wolken
versteckt. Immer, wenn ein anderer freundlich zu dir ist, kommt etwas
von der Liebe bei dir an!“
„Das fällt mir schwer
zu glauben.“, gab Tayo zu. Juri nickt: „Du kannst dich
entscheiden, es einfach mal zu versuchen. Tu so, als würdest du es
glauben! Du musst dich nicht mehr mit anderen vergleichen. Du musst
dich nicht mehr ärgern, wenn etwas ungerecht läuft. Denn dass du
etwas Besonders bist, steht sowieso schon fest. Versuche, das Gute in
anderen zu sehen. Gehe mit offenen Augen durch die Welt und schaue,
wo du Gutes tun kannst. Dann wirst auch du Liebe und Freundlichkeit
erleben.“
Tayo
beschloss, Juri wirklich einmal zu glauben. Zumindest für zwei
Wochen wollte er es ausprobieren. Und so ging er zurück zu seiner
Familie und immer, wenn er etwas ungerecht fand, ging er zum Bach,
sah seine Augen an und sagte sich: „Ich bin wertvoll.“ Und es
veränderte sich etwas: Je mehr er das glaubte, desto weniger musste
er darum kämpfen, Erster zu sein oder Aufmerksamkeit zu bekommen.
Eines Tages kam ein
streunender Hund namens Tassilo zum Wolfsrudel. Die Menschen hatten
ihn schlecht behandelt und deshalb wollte er nun im Wald leben. Die
Wölfe schickten ihn zwar nicht weg, aber sie waren nicht besonders
nett zu ihm. „Das ist doch nur ein Hund!“, sagten sie oft, „Der
kann nicht mal heulen.“ Doch Tayo dachte an die Worte der Eule, die
gesagt hatte, dass jedes Lebewesen wertvoll war …
An einem Abend war lautes
Hund-Gebell zu hören. Die anderen Wölfe meinten: „Ach, der Hund.
Der will bestimmt eh nichts Wichtiges.“ Tayo aber erinnerte sich
wieder an Juris Worte und beschloss, dem Bellen zu folgen, um zu
sehen, ob Tassilo Hilfe brauchte. Als er den Hund erreichte, wirkte
dieser sehr aufgebracht: „Wir müssen die anderen Wölfe warnen!
Ich habe Jäger beobachtet, die das Wolfsrudel überfallen wollen,
weil sie ihr Fell für teure Pelze benutzen wollen! Sie wissen, wo
die Wölfe schlafen und sind schon auf dem Weg – mit vielen großen
Gewehren! “ Oh nein! Tayos Herz raste. Was sollte er nur tun? Wenn
er erst den langen Weg zurück rennen wollte, käme er womöglich zu
spät. Ihm blieb nichts anderes übrig als das zu tun, das er sonst
nie tat … laut zu heulen! Er schämte sich noch immer für deine
krächzende Stimme, aber ihm war klar: Nur so konnte er die anderen
Wölfe retten! Also nahm Tayo all seinen Mut zusammen und heulte –
krächzend, aber laut und kräftig und so lange er konnte.
Als er endlich Ayko und
Wolfram herbeirennen sah und hinter ihnen die anderen, atmete er
erleichtert auf. Auch Tassilo freute sich: „Du hast sie gerettet!“
Rasch erzählte Tayo den anderen, warum er sie gerufen hatte. Das
ganze Rudel danke Tayo: „Danke, dass du uns gerettet hast, obwohl
wir nicht immer nett zu dir waren!“ Isegrimm stupste Tayo
freundlich an: „Weißt du, als du mit dem Heulen anfingst, war es
recht laut im Wald, weil gerade auch andere Wolfsrudel heulten und
einige Waldkauze durch die Gegend riefen. Aber weil deine Stimme so
anders klingt, war uns direkt klar: Das ist Tayo und es muss etwas
Wichtiges sein! Sonst würdest du nicht so laut heulen! Und so
machten wir uns alle auf den Weg – und konnten gut hören, aus
welcher Richtung das krächzende Heulen kam.“ Er grinste: „Siehst
du, da war deine Schwäche – die krächzende Stimme – eine
richtige Stärke!“ Tayo nickte. Von diesem Tag an heulte er jede
Nacht mit den anderen Wölfen. Er schämte sich nicht mehr dafür,
dass seine Stimme anders war – nein, er war stolz darauf, denn
gerade diese Schwäche hatte die Wölfe gerettet! Und als er Juri
wiedersah, rief er fröhlich: „Du hattest Recht!“ Die Eule
lächelte wissend. Mehr brauchte er nicht zu erklären.
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